– Standortbestimmung und Beitrag zur internen Positionsbestimmung im Herbst 2023 –
Wir Grünen sind in schweres Wasser geraten. In der Reaktion auf die russische Aggression nach Beginn der Regierungszeit in der Ampelregierung haben vor allem unsere Minister(innen) unvorstellbares geleistet. Von der schnellen Umstellung unserer Energieversorgung, der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine, der Schaffung einer breiten internationalen Abwehrfront bis zur Sicherstellung der Lebensmittelversorgung waren sie federführend beteiligt. Auch weiterhin wird in den meisten grünen Ministerien energisch daran gearbeitet, dass Deutschland und Europa die riesigen Herausforderungen, vor denen wir stehen, bewältigen kann.
Warum ist dann die Anerkennung und Zustimmung zu Grüner Politik so schlecht wie seit Jahren nicht? Warum sind unsere „Stars“ so massiv in der Publikumsgunst eingebrochen. Warum gelingt es teilweise sogar „Die Grünen“ zum Hauptfeind guten Lebens überhaupt zu brandmarken? Warum haben wir laut ARD Trend mehr als ein Drittel unserer potentiellen Wähler verloren? Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Zustimmung zur gewählten Regierung in der Mitte der Wahlperiode an einen Tiefpunkt kommt, aber selten so tief. Warum wächst die Zustimmung zur AFD bis hin zu einem demokratiegefährdenden Ausmaß genau wie die Unzufriedenheit bzw. der Hass auf die Grünen? Warum feiern viele in der Partei nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen ausgelassen das „historisch zweitbeste“ Ergebnis? Ist die Vorgeschichte des Bundestagswahlkampfes vergessen? Vergessen, dass es darum ging stärkste Partei zu werden. Vergessen, dass eine Kanzlerkandidatin aufgestellt wurde?
Aufwachen bitte! Es gibt viele Ursachen, die man diskutieren und über die man streiten muss. Wir brauchen zuerst mal wieder einen klaren und nicht durch Ideologie verstellten Blick. Ein realistischer Blick auf die Lage der Grünen in der Gesellschaft wird zu oft durch interne Schönfärberei versperrt. Viele glauben etwa noch, wir seien eine Großstadtpartei, wir sind aber lediglich die Partei der privilegierten großstädtischen Milieus. Hier finden sich noch genügend Wähler, die den woken Weg mitgehen wollen und die auf der anderen Seite die Umstellungen bei Energie und Arbeitsmarkt am ehesten verkraften können. Das reicht aber bei weitem nicht, um die Anforderungen der Grünen an die Zukunft gesellschaftlich zu verankern und eine effektive Umsetzung auf fundierter Basis voranzutreiben.
Die entscheidende Frage ist: Wie können wir das so schnell wie möglich verändern?
Wir schlagen dafür fünf zentrale Empfehlungen vor:
- Anpassung unserer Programmatik an die Herausforderungen der Zeit. Wir wissen alle, dass Deutschland und Europa neben vielem anderem vor vier großen drohenden Gefahren steht, deren Vorboten wir schon spüren und die sich zu tiefgreifenden Katastrophen auswachsen können.
a Die klimatisch/ökologische Katastrophe
b Die militärische Konfrontation Europas mit einem kollabierenden Russland
c Der ökonomische Niedergang Europas
d Unbeherrschte Flucht- und Migrationsbewegungen nach Europa
Obwohl allseits die Probleme mehr oder weniger gesehen werden, gibt es noch keine umfassenden, wirkmächtigen Antworten. Es sind auch keine Antworten, die von einer Partei allein geliefert und umgesetzt werden können. Diese Probleme und ihre Lösungen sind so schwerwiegend, dass sie im weitgehenden Konsens und Kompromiss aller führenden demokratischen Parteien gemeinsam gelöst werden sollten. Dies darf nicht im Parteienstreit zerredet und zerstritten werden. Wir haben als Grüne nur auf einen Teil der Herausforderungen Antworten, die allerdings teilweise nicht mehrheitsfähig und viele auch noch nicht auf Machbarkeit überprüft oder ausgerichtet sind. Auf einen großen Teil haben wir genauso wenig wie andere Parteien valide Antworten. Teilweise fehlt auch der Mut, die Probleme überhaupt in dieser Schärfe zu benennen, geschweige denn angemessene Lösungen vorzuschlagen. Wir schlagen vor, für alle vier Herausforderungen Fachleute für die jeweils wichtigsten Dimensionen dieser Probleme zusammenzurufen, um machbare und mehrheitsfähige Lösungen aus Sicht der Grünen zu erarbeiten und auf dieser Basis in einer breiten Debatte eine innerparteiliche Akzeptanz zu schaffen. Nicht weniger wichtig ist dann, mit den anderen demokratischen Parteien in einen offenen Diskurs zu gehen. - Stärkung der Organisation der Macht
Die vor uns stehenden Herausforderungen verlangen auch eine starke, einheitliche und breit akzeptierte Führung der Partei. Nach unserer Auffassung muss der Vizekanzler im Zentrum der Macht stehen, unterstützt von Parteivorstand und Fraktionsführung. Vor allem durch das Regierungshandeln erfahren die Bürger konkret, was grüne Politik bedeutet, welche Folgen das für sie hat und ob sie davon überzeugt sind, dass die grünen Regierungsmitglieder weitgehend in ihrem Interesse und Sinne handeln. Wir verstehen und unterstützen den partizipativen Führungsstil von Robert, dies muss aber dennoch zu einheitlichem Handeln & Kommunizieren aller grünen Ministerien, getragen von der Fraktion und massiv unterstützt vom Parteivorstand, führen. Die Causa Kindergrundsicherung hat allen Beteiligten geschadet und das Anliegen selbst beschädigt. Das verlangt aber umfangreichen Informations- Abstimmungsaufwand im Vorfeld, Vereinbarung von guten Kompromissen, Zuverlässigkeit und Vertrauen bei allen Beteiligten. Die Abstimmung in der 6-Runde reicht bei weitem nicht aus. Es bedarf der besten Kräfte unserer Partei innerhalb und außerhalb des BMWK, diesen Prozess zu organisieren, Sherpas, die das Vorfeld klären, Verbündete in der Fraktion, Netzwerk in die Partei. Für die Abstimmung zwischen den grünen Ministerien bedarf es eines virtuellen, aber personell definierten „Vizekanzleramt“. Es geht also weniger um innerparteilichen Machtanspruch als vielmehr um die Organisation der Macht der grünen Regierungspartei zum Wohle der Menschen in Deutschland. - Wir brauchen auch eine organisatorische Umgestaltung der Partei zu einer Regierungspartei „Nun aber steht ein weiterer Entwicklungsschritt an: Die Partei muss auch ihren Apparat umbauen; …. Sie muss ebenfalls zu einer Machtmaschine werden, denn die Vorstellung dass man allein mit moralischer Überlegenheit, bunten Sonnenblumenbildern, … und der guten Sache Klimaschutz Mehrheiten erreichen …. kann, hat sich als höchst trügerisch erwiesen.“ (Jana Hensel , Zeitonline 21.5.2023).
Wir brauchen dringend und umgehend:- Eine(n) viel stärker(n) nach außen und offensiver agierenden Bundesgeschäftsführer(in), ausgestattet mit einer stark besetzten Bundesgeschäftsstelle und einem professionellen Kommunikationsapparat (s.4.)
- Der/Die Bundesgeschäftsführer/in muss als Generalsekretär in der Lage sein, Angriffe auf unsere Partei zu parieren und, soweit möglich, wieder in die Vorhand zu kommen.
- Eine gut aufgestellte und vernetzte Strategieabteilung. Wir haben bisher keinen Ort, in dem strategische Fragen diskutiert, wissenschaftlich unterfüttert und in Vorschläge für die Umsetzung verarbeitet werden.
- Umgestaltung der BAGen aus beliebig zusammengesetzten Foren interessierter Mitglieder , die häufig zum Tummelplatz exotischer Ideen und Theorien geworden sind, zu seriösen Beratergremien des BuVo, zusammengesetzt aus anerkannten Fachleuten aus dem Kreis der Mitglieder. Auf Landesebene mit ihren LAGen ist das nicht weniger von Bedeutung.
- Ein viel stärkeres Netzwerk hinein in die Fraktionen und Landesvorstände und ein System der Diskussion, Abstimmung und Vereinheitlichung der Auffassung der Partei zu aktuellen Ereignissen und gesellschaftlichen Debatten. Die Vielstimmigkeit der Funktions- und Entscheidungsträger muss aufhören. Es kann nicht sein, dass der Bundesvorsitzende die Position der Grünen erläutert und dies von anderen Funktionsträgern konterkariert wird.
- Einen starken Bundesvorstand mit geschäftsführendem BuVo, bestehend aus den
führenden Köpfen der Partei, Regierungs- und Parteileute von Bundes- und
Landesebene angemessen vertreten. Nur so kann der BuVo schnell, entschlossen und sachgerecht auf die ständigen dramatischen Änderungen reagieren. Das Nebeneinander von Parteirat und BuVo muss aufgelöst werden.
- Grundlegende Neuorganisation der Kommunikation
Eine solche gewaltige Veränderung in Deutschland, Europa und weltweit verlangt eine umfassende kommunikative Begleitung. Den dafür notwendigen Kommunikationsapparat in Verbindung mit einem aufzubauenden reziproken Netzwerk in Presse, Wissenschaft, Verbände und Wirtschaft gibt es bis heute nicht, weder bei den grünen Ministerien noch beim BuVo oder LaVos. Wir sind nicht in der Lage, eine gegen uns gerichtete gesellschaftliche Debatte mit Konterstrategien umzudrehen. Außer an der nach wie vor guten Performance von Robert fehlt es hier an fast allem. Auch dies ist vor allem eine Frage der Organisation, Mittel und des professionellen Personals. Hier sind auch erfahrene Kommunikationsspezialisten, Politikwissenschaftler, Linguisten, Sprachsoziologen Social-Media-Spezialisten etc. gefragt.