Grüne Sicherheitspolitik nach der Zeitenwende

Anmerkungen der VERT-Realos zur aktuellen sicherheitspolitischen
Situation

Die Bedrohungslage in Europa hat sich in den letzten Jahren fundamental verschärft. Zwar haben sich die politischen Akteure, auch die Grünen, sowie die medialen Akteure in Deutschland deutlich und teilweise überraschend schnell bewegt (Stichwort: «Zeitenwende»), aber die Wirklichkeit bewegt sich schneller, und wir müssen feststellen, dass Europa immer noch nicht den sicherheitspolitischen Anforderungen genügt bzw. weit hinter ihnen zurückbleibt. Dabei sollten uns die Entwicklungen aufgrund des Vorgehens Russlands, aber auch Chinas sowie die Situation in den USA eher anspornen, die Schwächen der deutschen bzw. europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik schnell und konsequent anzugehen. Hierzu haben wir als VERT-Realos mit diesem Text unsere Denkanstöße für die innergrüne und öffentliche Diskussion formuliert.

Unser Leitmotiv ist die Sicherung bzw. Wiederherstellung des Friedens unter Beachtung internationalen Rechts als Basis zwischenstaatlichen Interessenausgleichs.

Die Geschichte lehrt, dass Machtasymmetrien zu Krieg verleiten. Es war die vermutete Machtasymmetrie, die Putin zu seiner Invasion in der Ukraine veranlasst hat. Daher gilt: Si vis pacem para bellum – Willst Du den Frieden, bereite Dich auf den Krieg vor. Wir glauben, dass es für diese uralte kontraintuitive Weisheit einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, den wir weiter stärken wollen.

Macht ist mehr als Militär. Putin hatte den Kampfgeist der Ukrainer unterschätzt, ihre Innovationsfähigkeit und natürlich auch die Solidarität des Westens. Aber das Blatt hat sich seit den Anfangstagen des Krieges gewendet: die Gleichschaltung der russischen Medien hat den russischen Kampfgeist gestärkt, während der Westen halbherzig wirkt und mit verzögerter militärischer Unterstützung auch die Moral der ukrainischen Soldaten sinkt. Wenn aber die Ukraine die russische Aggression nicht zurückschlagen kann, wird dies wiederum zu gefährlichen Schlussfolgerungen in Moskau, aber auch bei anderen potenziellen Aggressoren in der ganzen Welt führen, deren Korrektur noch viel größere militärische Anstrengungen zur Wiederherstellung auch unserer eigenen Sicherheit nach sich ziehen würden.

Eine glaubwürdige Abschreckung von Aggression beruht auf Verteidigungswillen und Verteidigungsfähigkeit und beides hängt voneinander ab. Diplomatie zur Verhinderung oder zur Beendigung eines Krieges unter Berücksichtigung des Völkerrechts setzt voraus, dass sich keine Konfliktpartei größere Vorteile durch eine Fortsetzung des Krieges versprechen kann. Investitionen in Waffen sind daher ein notwendiges Übel, nicht die Art von Ausgaben, die wir uns wünschen. Krisenpräventionen und internationale Friedensarbeit sind nicht vergebens und sollen selbstverständliche und wichtige Handlungsoptionen bleiben. Im Fall der Ukraine aber müssen wir feststellen, dass etwa diese Instrumente zur Verteidigung eines souveränen Staates versagt haben und wir dort zu naiv waren.

Keine Strategie: Deutschland und der Krieg in der Ukraine

Deutschland ist nach anfänglichem Zögern nun einer der größten Unterstützer der Ukraine. Zu einem nicht unerheblichen Teil ist die Handlungsweise Deutschlands (und in unterschiedlichem Maß der Europäer) bisher aber auch davon bestimmt, gerade soviel zu leisten, um die Ukraine nicht untergehen zu lassen. Da geht es um diese und jene Waffengattung, um diese und jene Lieferung von Munition und sonstigen Militärausrüstungen, immer unter der Maßgabe: «Ist das wirklich notwendig? Zieht uns das in den Krieg?«. Beim Taurus wurde das auf die Spitze getrieben und führte zu heftigen Diskussionen.

Völlig ausgelassen wird eine strategische Sicht, nach der ein Ziel formuliert wird, und dann die Kräfte darauf gebündelt und so gestaltet werden, dass sie veränderten Bedingungen gerecht werden, um dieses Ziel zu erreichen.

Was soll erreicht werden?

  • Rückzug der russischen Truppen und Siedler vom Territorium der Ukraine
  • Bestrafung der zehntausenden von Kriegsverbrechen, die von Russland im Zuge dieses Angriffskriegs täglich begangen werden
  • Rückführung der entführten ukrainischen Kinder und anderen Verschleppten aus Russland
  • Materielle Wiedergutmachung der flächendeckenden Zerstörung ukrainischer Infrastruktur, Kultureinrichtungen, Kirchen usw. durch Russland

Deutschland und der Westen sind nicht Kriegspartei in einem militärischen Sinn, aber Russland führt Krieg gegen den Westen und wir können nicht umhin, solche strategischen Fragen zu beantworten. Die Beantwortung dieser Fragen erfordert einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, wobei auch der Preis eingerechnet werden muss, den die Beantwortung jeder dieser Fragen mit sich führt.

Völlig falsch ist es, wenn die Bundesregierung statt strategischer Ziele nur «rote Linien» für das eigene Verhalten festlegt, unabhängig vom Verhalten der Gegenseite.

Richtig ist, dass man sich nicht nur auf Waffenlieferungen fokussiert, sondern darauf, wie ein Frieden überhaupt denkbar gemacht werden kann. Das darf aber nicht dadurch geschehen, dass man den Angegriffenen nötigt, Konzessionen zu machen, sondern den Angreifer.

Deshalb sind wir der Meinung, jetzt ist Zeit für einen neuen Doppelbeschluss. Heute wäre es klug, Russland zu signalisieren: Wir sind zu einem dauerhaften
Friedensvertrag bereit, der Sicherheit und Frieden in Europa gewährleistet auf der Basis des Völkerrechts und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Bis dies geschieht werden wir unsere Unterstützung der Ukraine erheblich stärken und keinerlei «rote Linien» für uns selbst akzeptieren.

Je näher die Front rückt, desto teurer wird der Erhalt von Freiheit und Unabhängigkeit Deutschlands und Europas. Wir sind der Meinung, es ist in unserem besten Interesse, wenn wir jetzt alles dafür tun, damit die russischen Angriffe in der Ukraine zurückgeschlagen werden können.

Waffenproduktion umfassend ausweiten

Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und kann gegenwärtig z.B. schon weit mehr als 1 Mio. Einheiten Artilleriemunition pro Jahr herstellen, ganz Europa nur 500.000. Wir müssen endlich die einfache Tatsache anerkennen, dass es Jahre braucht, bis ausreichend Waffen und Munition zur Verfügung gestellt werden können. Deshalb müssen wir jetzt sofort die gesamte Waffenproduktion in ganz Europa ausbauen. Denn auch der Weltmarkt wird in Kürze leergefegt sein, während Russland seine Verbündeten immer weiter aufrüstet bzw. kostengünstige Drohnen vom Iran bezieht. Das Versäumnis dieses nicht bereits 2022 gemacht zu haben, wie Robert Habeck jetzt betonte, ist für die Ukraine tragisch, könnte aber bald auch uns teuer zu stehen kommen.

Abschreckungswirkung schnell herstellen!

Wir begrüßen ausdrücklich die Bemühungen von Verteidigungsminister Pistorius, die Bundeswehr einsatzfähig und personell wie ausrüstungsmäßig »kriegstauglich« also verteidigungsfähig zu machen, damit auch die Abschreckungswirkung sichergestellt wird. Diese Bemühungen müssen gesellschaftlich breit unterstützt werden.

Die Wiedereinführung der Wehrpflicht (oder / und anderer effizienter Maßnahmen, den Bestand an für die moderne Kriegsführung qualifiziertem Personal der Streitkräfte auf die erforderliche Höhe zu bekommen), muss ernsthaft, auch über Parteigrenzen hinweg, debattiert werden. Und zwar nicht unter der Vorgabe: «Was geht alles nicht?», sondern: «Wie kann es gelingen?»

Die finanzielle Ausstattung der Bundeswehr muss deutlich über das 2%-Ziel hinaus gewährleistet werden, auch wenn das ein schmerzhaftes finanzielles Kürzertreten an anderer Stelle zur Folge hat. Wir müssen uns alle darüber bewusst werden, dass die Zeiten der «Friedensdividende» für lange Zeit vorbei sind.

Kritik üben wir daran, dass Beschaffungsaufträge immer noch nicht, bzw. nur zaghaft und schleppend, erfolgen (gerade mal die an die Ukraine gelieferten Geräte werden ersetzt). Die Bundesregierung muss endlich handeln!

Europäische Dimension

Die Abwehr der Bedrohungen, etwa durch Russland, ist nur in enger Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern möglich. Dies schließt auch Großbritannien ein. Deshalb begrüßen wir alle Schritte, die Verteidigungsanstrengungen europaweit zu koordinieren. Wir appellieren dringend an alle Verantwortlichen, Gemeinsamkeiten zu suchen. Differenzen gehören in die Sphäre diplomatischer Vertraulichkeit und nicht auf den Marktplatz. Europa ist dann stark, wenn sich Frankreich und Deutschland um ein Vorankommen der EU und gemeinsam mit Großbritannien bei den europäischen NATO-Staaten kümmern. Aber auch die Partnerschaft mit Polen kann und sollte jetzt ausgebaut werden, das »Weimarer Dreieck« könnte hierbei wichtige Impulse setzen. Die Bereitschaft Frankreichs auch Truppen einzusetzen, sollte von den Partnern unterstützt und von der Ukraine als Angebot ernst genommen werden.

Die NATO ist für die Verteidigungsfähigkeit unverzichtbar. Die Aufnahme Finnlands und Schwedens ist ein Zeichen der Stärke angesichts der Unsicherheiten. Unter anderem angesichts einer möglichen Trump Präsidentschaft muss Europa sich als «Plan B» schon jetzt auf eine «NATO ohne die USA bzw. weniger USA» einstellen, was erhebliche Mehranstrengungen notwendig machen wird. Dazu gehört auch die Gestaltung der atomaren Abschreckung in Europa, die aktuell wirksamste Abschreckung.

Weltweite Dimension

Neben der gefährlichen sicherheitspolitischen Lage an der Frontlinie zwischen Russland und der Ukraine, existieren weltweit auch andere bedrohliche Konflikte. Eine Allianz der autokratischen Staaten formiert sich immer mehr und wird zur Gefahr für die freiheitlich liberalen Demokratien. Auch die deutsche Außenpolitik ist hier nun stärker als je gefordert, strategisch und mehrdimensional zu arbeiten.

China: Obwohl derzeit ein Partner Russlands, hatte China schon immer eigene Interessen, die mit denen Russlands nur teilweise kongruent sind. Es ist die Aufgabe westlicher Aussenpolitik, diese Interessenlage klug zu nutzen, um die Distanz zwischen China und Russland eher zu vergrößern als zu verkleinern. China hat wirtschaftliche Interessen jenseits von Russland, die hier nutzbar gemacht werden können, auch im Hinblick auf die Sicherheit Taiwans und die deutlich zu verringernden strategischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten Europas von China.

Afrika: Der afrikanische Kontinent ist derzeit ein weiteres Feld des Wettkampfs zwischen mit Moskau verbündeten Autokraten, chinesischen Neu-Kolonialisten, französischen Post-Kolonialisten, und nach Unabhängigkeit strebenden Staaten. Hier ist es die Aufgabe westlicher Außenpolitik, die unabhängigen Kräfte Afrikas entschieden zu stärken, statt sie paternalistisch und mit neokolonialem Gehabe zu bevormunden und so in die Hände Russlands und Chinas zu treiben.

Parteienübergreifend

Verteidigungsbereitschaft als gesamtgesellschaftliche Aufgabe geht für uns vor Koalitionstreue. Die Herausforderungen sind so groß und die bereits eindeutig gegen die europäischen Sicherheitsinteressen in Stellung gebrachten Kräfte so verfestigt (AfD, Linke, BSW), dass eine überparteiliche Zusammenarbeit der Ampel-Parteien mit der CDU zwingend geboten und damit die notwendige Erfüllung der Aufgaben auch in den nächsten Legislaturperioden abgesichert ist.

21.04.2024

Rebecca Harms, KV Lüchow-Dannenberg
Rainer Lagemann, KV Steinfurt
Sina Beckmann, KV Friesland
Hajo von Kracht, Zürich
Tom Aurnhammer, KV Nürnberg
Andreas Bühler, KV Böblingen
Reiner Daams, KV Solingen
Ulrich Martin Drescher, KV Waldshut
Rainer Emschermann, KV Aachen (OV Brüssel)
Elmar Gillet, KV Rhein-Erft
Ewald Groth, KV Bochum
Volker Haese, Grüne Erzgebirge
Nikolaus Huss, KV Tempelhof Schöneberg
Christoph Joachim, KV Tübingen
Uwe Josuttis, KV Kassel-Stadt
Winfried Karls, KV Bayreuth-Land
Dr. Marlene Klatt, KV Steinfurt
Johannes F. Kretschmann, KV Sigmaringen
Claus Kreusch, KV Düsseldorf
Tilman Krösche, KV Heidekreis
Robert Levin, KV Osterholz-Scharmbeck
Michael Matthes, KV Erfurt
Michael Merkel, KV Bochum
Bernhard Müller, KV Aachen
Jürgen Roth, KV Siegen
Christian Sandau, KV Berlin-Mitte
Gerhard Sauer, KV Berlin-Spandau
Eugen Schlachter, KV Biberach
Sven Schrade, KV Reutlingen
Silke Stokar, RV Hannover
Rüdiger Warnecke, Rhein-Erft-Kreis
Klaus-Peter Murawski, KV Nürnberg