Kasseler Erklärung

Deutschland steht vor riesigen Herausforderungen. Nach Corona und die mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine verbundene Energiekrise und einer in der bisher bundesdeutscher Geschichte nicht gekannten Inflation, geht es um die Modernisierung Deutschlands insgesamt und die Umgestaltung zu einer zukunftsfähigen, klimaneutralen, sozial-ökologischen Marktwirtschaft inklusive Industrie 4.0.

Wir GRÜNEN verantworten die wesentlichen Bundesministerien, die für die Umsetzung genau dieser Modernisierung zuständig sind. Eine gewaltige Herausforderung auch für die ganze Partei.

In der Antwort auf die russische Aggression haben vor allem unsere Minister(innen) unvorstellbares geleistet. Von der unfassbar schnellen Umstellung unserer Energieversorgung, der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine, der Schaffung einer breiten internationalen Abwehrfront bis zur Sicherstellung der Lebensmittelversorgung waren sie federführend beteiligt. Aber vielleicht hat die Bewältigung gerade dieser ungeplanten Aufgaben verhindert, dass wir für die Aufgaben, mit denen wir als Regierungspartei angetreten sind noch nicht ausreichend vorbereitet sind. Das müssen wir jetzt nachholen.

Die GRÜNEN müssen den Anspruch ernst nehmen, als Partei in der aktuellen Regierung Politik für und mit den in Deutschland lebenden Menschen in unserem Land zu gestalten, in Vereinbarkeit mit den Interessen anderer Völker, der Natur und unserem Planeten Erde. Diesen Anspruch erfüllen wir noch nicht. Wir rufen alle Mitglieder unserer Partei auf, mit uns gemeinsam zu überlegen, wie wir hier deutlich besser agieren können.


Wo und wie müssen wir uns als Partei in der Regierung verbessern?


1. Weder hat sich die gesamte Partei ausreichend klargemacht, wie gewaltig diese
Aufgabenstellungen sind, noch haben wir im Detail geklärt, wie die Gesellschaft und Wirtschaft eigentlich konkret von A nach B kommt und wo Fallstricke, schwer zu lösende Problemfelder, Widerstände und Ängste entstehen könnten.

2. Eine solche gewaltige Veränderung verlangt eine umfassende kommunikative Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung. Diesen Kommunikationsapparat in Verbindung mit einem
starken Netzwerk in Presse, Wissenschaft, Verbände und Wirtschaft gibt es bis heute nicht,
weder bei den Grünen Ministerien noch beim BuVo oder LaVos. Wir sind nicht in der Lage,
eine gegen uns gerichtete gesellschaftliche Debatte mit Konterstrategien umzudrehen.

3. Wer das Land führen will, muss mehrheitsfähige Antworten nicht nur auf die Klima- und
Umweltkrise, sondern auf alle wesentlichen Problem der Gesellschaft haben, Stadt und Land, Wohnungsmangel, Digitalisierung, disruptive KI, Migration, Bildung, Fachkräftemangel usw. Mehrheitsfähig verlangt mehr als nur die Zustimmung unserer Wähler.

4. Die Grünen haben vor allem auf Bundesebene die Metamorphose von der Oppositions- zur
Regierungspartei noch nicht vollendet. Jetzt, wo die Wähler uns den Regierungsauftrag
erteilen, ist die größte Gefahr, dass wir unsere Ziele und Aufgaben im Blick haben, aber noch zu wenig die Ausgangsbedingungen und Lebenssituationen der Menschen berücksichtigen. Genau das hat jetzt schon erhebliche Auswirkungen auf Ansehen und Akzeptanz der Grünen.
DIE GRÜNEN laufen Gefahr, ihre historische Aufgabe nicht mehr erfüllen zu können.


Was ist jetzt die Aufgabenstellung für die ganze Partei?


1. Wir brauchen eine Wende zu einer Partei der Umsetzung


Wir müssen uns inhaltlich weiterentwickeln von einer Partei der Ziele und Forderungen hin zu einer Politik der Umsetzung, der pragmatischen Gestaltung, die die Menschen mitnimmt. Die zentrale Frage ist: Wie gestalten wir die wichtigsten Veränderungen und Anpassungen zur Sicherstellung der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft so, dass sie nicht nur von Wirtschaft und Gesellschaft überwiegend mitgetragen, sondern aktiv mit vorangetrieben werden und die Gegner in die Defensive geraten.

Wir wollen die Diskussion so führen, dass die Partei zusammenbleibt, denn wir sind uns trotz aller Unterschiede in den Zielen einig. Wenn nicht einmal wir gemeinsam getragene Lösungen finden, wie soll es dann die gesamte Gesellschaft? Vor allem darüber sollten wir uns konkreter
verständigen:

a. Wirtschaftspolitik: Auch wenn viele im Kapitalismus die Ursache für die Ausmaße der Klima- und Biodiversitätskatastrophe sehen, werden wir kein neues Wirtschaftssystem erfinden und etablieren können. Wir wollen deshalb die Ressourcen und Potenziale dieser Gesellschaft und der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft in vollem Umfang nutzen. Die Strategie „Gutes tun und dabei viel Geld zu verdienen“ haben wir mit dem EEG schon einmal mit großem Erfolg und weltweiter Wirkung umgesetzt.

b. Verkehrspolitik: Lasst uns die Feststellung des Fahrradverantwortlichen der Stadt Kopenhagen zur Grundlage unserer Verkehrspolitik machen: Die Menschen in Kopenhagen nutzen das Fahrrad nicht, weil sie eine ökologische Gesinnung haben, sondern weil es schneller, bequemer und billiger ist.

c. Biodiversität: Niemand weiß besser als wir, dass hier ein vielleicht noch viel größeres Problem für die Menschheit zu bewältigen ist. Aber die Zielkonflikte zwischen Natur- und Klimaschutz, Wirtschaft und Artenschutz lassen sich nur auflösen, wenn wir Wege zur Stärkung und Schutz der Ökosysteme und der Arten darin – unabhängig von einzelnen Exemplaren – entwickeln.

d. Migration: Humanität und Ordnung muss in seinen Konsequenzen durchbuchstabiert werden. Gerade weil wir unverbrüchlich die Menschenrechte und das Asylrecht hochhalten, müssen wir die Frage praktisch klären, wie das gehen kann. Das sind keine ideologische Fragen, sondern der menschenwürdigen Machbarkeit und der Akzeptanz in unserer Gesellschaft. Wir werden sie nur mit den Menschen und mit den kommunal Verantwortlichen lösen können.

e. In einer Einwanderungsgesellschaft entwickeln sich viele Lebenswirklichkeiten. Sie bereichern die gesamte Gesellschaft, können aber auch den Zusammenhalt gefährden. Wir müssen klären, was der freiheitlich demokratischen Entwicklung der Gesellschaft nutzt und was sie gefährdet.

f. Identitätspolitik: Es ist richtig, dass unsere Gesellschaft darüber nachdenkt, wie sie Gleichberechtigung und Diversität umsetzt. Die Aufgabe der Politik ist ökonomische, organisatorische und rechtliche Voraussetzungen dafür zu schaffen. Aber der kulturelle Prozess der Veränderung ist ausschließlich Aufgabe der Zivilgesellschaft in einem freien Diskurs des Für und Wider, des Respekts vor Gewohnheiten und mit behutsamen Veränderungen.

g. Sicherheitspolitik: Außen- und militärpolitisch haben wir große Fortschritte in der Anerkennung der Realität gemacht. Herausforderung – nicht nur für uns– ist, wie Deutschland und Europa aufdie rasante Veränderung der Weltlage reagieren müssen. Werte und Interessen, Sicherheit, Bündnisse und Klima und Umweltpolitik müssen neu austariert werden.

h. Innenpolitik. Wir gehören zu den sichersten Ländern der Welt. Gerade deshalb ist menschliche Sicherheit ein besonders sensibles Thema. Wir dürfen die Realität der Probleme nicht leugnen, nur weil sie der politische Gegner nutzen könnte. Wir brauchen allerdings zeitgemäße und nachhaltige Lösungen im Unterschied zur traditionellen Law-and-Order-Politik.


2. Wir brauchen auch eine organisatorische Umgestaltung der Partei zu einer Regierungspartei

„Nun aber steht ein weiterer Entwicklungsschritt an: Die Partei muss auch ihren Apparat umbauen; …. Sie muss ebenfalls zu einer Machtmaschine werden, denn die Vorstellung dass man allein mit moralischer Überlegenheit, bunten Sonnenblumenbildern, … und der guten Sache Klimaschutz Mehrheiten erreichen …. kann, hat sich als höchst trügerisch erwiesen.“ (Jana Hensel , Zeitonline 21.5.2023).

Wir brauchen:

a. Einen starken Bundesvorstand mit geschäftsführendem BuVo, bestehend aus den führenden Köpfen der Partei, Regierungs- und Parteileute von Bundes- und Landesebene angemessen vertreten. Nur so kann der BuVo schnell, entschlossen und sachgerecht auf die ständigen dramatischen Änderungen reagieren. Das Nebeneinander von Parteirat und BuVo muss aufgelöst werden.

b. Eine angemessen ausgestattete Bundesgeschäftsstelle mit einem professionellen Kommunikationsapparat. Sie gestaltet die Kommunikation, unterstützt von entsprechenden Fachleuten, und baut ein aus allen gesellschaftlichen Gruppierungen bestehendes Netzwerk der kommunikativen Unterstützer auf .

c. Eine gut aufgestellte Strategieabteilung. Wir haben bisher keinen Ort, in dem strategische Fragen diskutiert, wissenschaftlich unterfüttert und in Vorschläge für die Umsetzung verarbeitet werden. Gegenwärtig dominieren hier sicherlich Umsetzungsfragen, aber zukünftig werden neue Fragestellungen eine zunehmend stärkere Rolle spielen.

d. Eine aktive Personalentwicklung. Eine in ihren Aufgaben und Verantwortung wachsende Partei braucht eine hohe Anzahl sehr qualifizierter Führungskräfte. Bestimmte Erfahrungen können dabei nicht durch Intelligenz und schon gar nicht rhetorische Kompetenz ersetzt werden.

e. Die Organisierung einer breiten Diskussion in der gesamten Partei, „Realität trifft Programm“: Reichen dafür MVs und B/LDKs? Wie können wir Gesprächs- und Diskussionsforen vor Ort genauso wie die digitale Information und Kommunikation ausweiten? Unsere Aufgaben sind zu groß für reine Machtspiele von Flügeln und Personen.

Die Grünen befinden sich in schwerem Fahrwasser, alle verantwortungsbewussten Grünen – egal aus welchem Flügel oder individuellen Selbstverständnis müssen gemeinsam handeln. Wir VERT Realos sind sicher nicht die einzigen, die sehen, dass die Grünen ohne bessere inhaltliche und organisatorische Aufstellung auf Dauer nur wenig Chancen haben, erfolgreich Regierungsverantwortung umzusetzen. Uns leitet dabei auch der Wille, Grüne als Regierungspartei zu gestalten, die Verantwortung für den Weg in die Zukunft trägt und das ohne jede Sehnsucht nach Oppositon. Wir wollen mit dieser KASSELER ERKLÄRUNG einen Beitrag dazu leisten.

18.06.2023